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Wegweiser

Wegweiser

Manchmal habe ich das Gefühl, im Kreis zu laufen.
Vieles wiederholt sich, erscheint banal und einfach falsch.
In der heutigen Geschichte geht es einem jungen Mann so. 
Ob er die Kurve kriegt?

Als die Sonne aufging, saß Herr Friedrich auf seinem Balkon.
Ich konnte ihn von meinem Fenster aus erkennen.
Sein weißer Haarkranz leuchtete wie ein Heiligenschein um seinen Kopf, seine Finger waren wie in einem innigen Gebet ineinander verschränkt, seine Lider fest geschlossen.
Das Müllauto rumpelte durch die Straße, die Müllmänner ließen die Tonnen übers Pflaster rattern, aber Herr Friedrich regte sich nicht.
Ich fing an, mich um ihn zu sorgen.

Doch die Zeit lief mir davon.
Ein Meeting mit wichtigen Geschäftskunden stand an, mein Wecker war nachgegangen und mein Hemd war noch nicht gebügelt.
Ich musste mich ranhalten.
Herr Friedrich hatte vor Kurzem seine Frau verloren.
Zwei Wochen nach dem fünfzigsten Hochzeitstag.
„Es war eine Erlösung für sie“, sagte er, aber ich wusste, dass er schwer daran zu tragen hatte.
Als ich aus dem Haus hastete, warf ich einen Blick hinauf in den zweiten Stock.
Herr Friedrich war von hier aus nicht zu sehen und ich glaubte nur allzu gerne, dass er jetzt gemütlich bei einem Glas Orangensaft und einem weichgekochten Ei an seinem Frühstückstisch saß.
Die Präsentation, die ich in einer knappen Stunde halten sollte, übernahm die Herrschaft in meinem Kopf.
Ich war sehr gut vorbereitet.

Am Mittag spülte ich den Frust über das verpatzte Geschäft mit einem Barolo hinunter.
Am Anfang war alles gelaufen wie geschmiert.
Ich hatte überzeugend und ohne Hänger meine Entwürfe vorgestellt, bis mir in einer Pinkelpause auf dem Flur ein alter Mann über den Weg gelaufen war, der Herrn Friedrich ähnlich sah.
Von da spukte mir mein Nachbar so im Kopf herum, dass kein gerader Satz mehr über meine Lippen kam.
Ich stammelte, stotterte, stockte bis ein Kollege das Wort an sich riss und die Vorführung zu Ende brachte.
Die Kunden wollten sich unsere Vorschläge überlegen.
Wenn ich das schon höre.
Das bedeutet in der Regel: Wir lassen Sie noch eine Weile dafür zappeln, dass Sie uns unsere wertvolle Zeit gestohlen haben.

Aus dem einen Glas Wein wurde eine Flasche und um Viertel vor drei rief ich in der Firma an, um zu sagen, dass ich krank sei und nach Hause gehen würde.
In den fünf Jahren dort hatte ich noch keinen Tag gefehlt.
Bevor ich eine Antwort bekommen konnte, drückte ich das Gespräch weg.

Beim Ausparken streifte ich einen Pfeiler in der Tiefgarage, aber die restliche Fahrt verlief ohne Zwischenfälle.
Als ich aus dem Wagen stieg, stand Herr Friedrich auf seinem Balkon und blinzelte in die Sonne.
Er winkte mir freundlich zu und nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.
Für einen Moment wurde mir leicht ums Herz, aber im nächsten Augenblick schüttelte sich in meinem Magen eine wütende Faust.
Ich wankte die Treppe hinauf, warf mich auf mein Bett und prügelte meine Matratze krankenhausreif.

Dann überfiel mich ein tiefer Schlaf und ich träumte von Herrn Friedrich.
Als ob sich eine beschlagene Scheibe wieder klärt, wurde die Wand zwischen unseren Wohnungen durchsichtig.
Ich sah den alten Herrn reglos mit geschlossenen Augen auf seinem dunkelbraunen Ledersofa sitzen.
Von seinen Füßen aus wucherten neongrüne Flechten an ihm empor.
Plötzlich tat sich vor mir ein Durchgang auf und ein Geruch wie von einem algenüberwucherten Fischteich stieg mir in die Nase.
Ich trat schnell auf Herrn Friedrich zu und wollte ihn aufwecken, da merkte ich, dass ich schon bis zu den Knöcheln im Wasser stand.
Innerhalb von Sekunden schoss es aus allen Zimmerecken heran.
Schon hob es den alten Herrn vom Sofa.
Er war zu sich gekommen, ruderte vergnügt mit den Armen und jauchzte, als ihn die Flut durch das geborstene Dach in den Himmel spie.
Verzweifelt versuchte ich, ihn zu packen, aber meine Beine waren mit schweren Eisenketten an den Boden gefesselt.

Ich rang nach Atem und wachte japsend auf. Regen trommelte aufs Dach und legte einen Schleier vor die gardinenlosen Fenster.

Mein Kopfkissen war vollgesabbert, meine Zunge schmeckte nach Jauche.
Ich dachte an Carla.
Sie hatte die Vorhänge mitgenommen, als sie vier Wochen zuvor ihre Koffer gepackt hatte. Genauso wie meine Green-Day-CDs und meinen Toaster.

Aus Herrn Friedrichs Wohnung drangen die Anfangsmelodie von „Wer wird Millionär“ und ein Frauenlachen. Plötzlich hasste ich ihn, seinen Fernseher und seine unbekannte Besucherin.
Er hatte mir alles verdorben, es war nur seine Schuld, dass ich versagt hatte.
Ich stürmte aus meiner Wohnung und hämmerte gegen seine Tür.
Als er lächelnd öffnete blieb mir meine Wut im Hals stecken.
Ich starrte ihn nur böse an und rannte dann wie besinnungslos ins Freie.

Ohne Ziel taumelte ich durch die Straßen, durchnässt bis auf die Knochen.
Plötzlich riss mich ein lautes Quietschen aus meiner Trance.
Keine fünf Zentimeter vor mir war ein uralter VW-Bus zum Stehen gekommen.
Der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter und rief mir zu: „Mein Gott, was laufen Sie denn hier auf der Straße herum? Ihnen ist doch hoffentlich nichts passiert. Sie können Ihrem Schutzengel dankbar sein.“

Ich trat einen Schritt zurück und streckte meinen Daumen in die Höhe.
Alles in Ordnung.
Kopfschüttelnd gab er Gas.

Die wenigen Menschen auf dem Gehweg schauten mich mitleidig an, blickten auf meine Füße, die in Socken im Rinnstein wateten und wandten sich im nächsten Augenblick peinlich berührt ab.
Sie schienen mir unter ihren Schirmen geborgen.
Was sie wohl in mir sahen? In meinem edlen Armani-Anzug mussten sie mich für einen durchgeknallten Banker halten, der den letzten Börsencrash nicht verkraftet hatte.
Und sie hatten in gewisser Weise recht.
Ich, das Muster an Verlässlichkeit und Zielstrebigkeit, war ausgerastet, stand völlig neben mir und wusste nicht einmal, warum.
Doch es ging mir von Minute zu Minute besser.
Ich rannte davon.
Endlich spürte ich das Leben wieder in mir.
Der Regen spülte meine Gehirnwindungen durch und es dauerte nicht mehr lange, da war mein altes Leben mit dem Wolkenbruch davon geschwommen.

Die Leute um mich herum duckten sich unter ihren Schirmen und kamen mir nun darunter gefangen vor.
Aber für mich fing eine neue Zeitrechnung an.
Ich wollte mich nicht mehr einsperren lassen.
Meine Krawatte vermachte ich einem Stoppschild und meine Jacke einem Rosenstrauch.
Die Tropfen fielen spärlicher und der Mond schimmerte hinter den Wolken.
Ich begrüßte ihn mit einer tiefen Verbeugung und gab ihm ein Versprechen: In den nächsten zwölf Monaten werde ich mir eine neue Welt erobern und der Himmel würde mir den Startschuss dazu geben.

Ich ließ mich auf eine Bank sinken, hob den Blick und wartete bis sich die Sterne zeigten.
Der erste, der erschien, sollte mir die Richtung weisen.
Als ich gegen elf das Licht im Hausflur anschaltete, stand vor meiner Wohnungstür ein Stück Schokoladenkuchen.
Auf einem Zettel las ich in Herrn Friedrichs Altherrenschrift: „Ich hoffe, dass es Ihnen bald besser geht, und werde für Sie beten. Kommen Sie mich doch bald einmal besuchen. Zu zweit lassen sich Sorgen besser tragen.“
Das werde ich sicher tun. Auch die Freude ist größer, wenn man sie teilt.

Ich setzte mich an den Computer, schrieb meine Kündigung und buchte einen Flug nach Brasilien.

 

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