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Was denkt mein Tischtuch, …

Was denkt mein Tischtuch, ...

Was denkt mein Tischtuch, wenn ich rülpse?

Wahrscheinlich gar nichts.

Ist ja nur ein Tischtuch.

 

Aber stell dir mal Folgendes vor:

Du sitzt am Tisch und rülpst.

War halt zu viel Kohlensäure im Wasser oder so.

Plötzlich flattert das Tischtuch.

Es scheint sich zu kräuseln.

Dein Glas gerät ins Wanken.

Du kannst es gerade noch festhalten, bevor es kippt.

Du erschrickst.

Denkst vielleicht: Hilfe, ein Erdbeben.

Da sagt eine tiefe Stimme:
„Halte wenigstens die Hand vor den Mund.“

Du schaust dich um.

Woher kam das denn jetzt?

Niemand zu sehen.

Du bekommst einen Schluckauf vor Schreck.

Wieder diese Stimme: „Das hast du jetzt davon.“

Du fragst: „Wovon?“

Und bekommst die Antwort: „Vom Rülpsen. Wusstest du nicht, dass du damit dein Zwerchfell provozierst? Es hat ein so empfindliches Gehör und ein so sensibles Gemüt. Es schüttelt sich, weil es sich ekelt. Nun hüpft es auf und ab, um sich zu wehren. Schluckauf eben.“

Du traust dich endlich zu fragen: „Wer spricht da?“

„Dein Tischtuch, wer sonst?“

 

So fängt es an.

Wie es wohl weitergeht?

 

Am besten, du befragst deine persönliche Assistentin: die Fantasie.

Sie ist zur Stelle, wenn du sie brauchst.

Aber nur, wenn du sie hegst und pflegst, trainierst und ausprobierst.

Sonst verkümmern deine fantastischen Vorstellungsmuskeln.

Und dann bist du aufgeschmissen und brauchst vielleicht künstliche Intelligenz …

 

Naja, ich will mal nicht so sein.

Man kann die KI schon ab und zu benutzen.

Sie kann ein hilfreiches Werkzeug sein.

Aber bitte mach dich nicht abhängig von ihr!

(Hast du das Ausrufezeichen bemerkt? Das benutze ich wirklich nur im Notfall.)

 

In den nächsten Wochen bekommst du hier kurze Fantasie-Trainingseinheiten.

Die erste hast du oben schon kennengelernt:

Nimm eine (für dich) ungewöhnliche Perspektiven ein.

 

Ein paar Beispiele:

Stell dir vor, du bist ein uralter Baum im Stadtpark.

  • Was hast du erlebt in deinem über hundertjährigen Leben?
  • Wer ist an dir vorbei flaniert?
  • Welche Gespräche hast du belauscht?
  • Welchem Wetter warst du ausgesetzt?
  • Welchen freudigen und katastrophalen Ereignissen hast du beigewohnt?
  • Was hast du gespürt, gehört, gesehen, geschmeckt, gerochen?

Oder unterhalte dich mit dem Marienkäfer, der über die Brennnessel krabbelt.

Warum verbrennt er sich nicht?

Was ist sein Trick?

Bleib nicht bei der Wahrheit.

Tauche ein in deine Fantasie.

Vielleicht hat der Marienkäfer ein Geheimrezept für eine Anti-Brenn-Salbe von seiner Oma geerbt und pinselt sich damit immer den Bauch ein.

Oder er ist in Wahrheit eine Fee, die in Drachenblut gebadet hat und deshalb unverwundbar ist.

Oder, oder, oder …

 

Übrigens gibt es von Hermann Hesse eine – wie ich finde – wunderbare Geschichte, in der ein Ofen seine Sicht auf die Welt kundtun darf: Gespräch mit einem Ofen.

Den Text kannst du dir auf dem Kanal des Museo Hermann Hesse Montagnola auf YouTube anhören: https://www.youtube.com/watch?v=dgUdhLiPZGQ

Die Geschichte ist von 1919, aber absolut zeitlos.

Übrigens lese ich sie selbst vor beim Lesemarathon „Hesse, Häppchen, History“, der anlässlich des 175-jährigen Jubiläums der Diakonie Stetten veranstaltet wird.

Wo und wann? Am Sonntag, 23. Juni 2024 zwischen 14 und 17 Uhr in der Diakonie Stetten in Kernen-Stetten.

Dort hat Hermann Hesse übrigens als Jugendlicher ein paar Monate gelebt.

Komm doch vorbei, wenn du in der Nähe wohnst.

 

Und nun viel Spaß mit dem Perspektivwechsel.

Schick mir gerne deinen Text.

 

Viele Grüße

Beate

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