Schreibreisen - innerlich
Wenn ich schreibe, gehe ich auf Reisen.
Sie führen zunächst in mein Inneres.
Dort finde ich Dinge, die sich im Laufe meines Lebens angesammelt haben.
Was ich gehört, gesehen, geschmeckt habe.
Was ich gefühlt und gerochen habe.
Was ich auf irgendeine Art und Weise wahrgenommen habe.
Und auch, was in mich gedrungen ist, ohne dass ich es bemerkt habe.
Alles liegt in mir, vermischt und vermengt, unklar und unsortiert.
Wenn ich anfange zu schreiben, fließt es aus mir heraus.
Sortiert sich, klärt sich, ordnet sich.
Setzt sich auf eine völlig neue Art und Weise zusammen.
Ich schöpfe aus meinem Inneren, aber ich bin dabei nicht nur „ich“.
Viele andere Menschen, ihre Erlebnisse, Erkenntnisse, Erfahrungen fließen in den Text.
Und plötzlich steht er da.
Eine völlig neue Kombination aus Buchstaben und Worten, Gefühlen und Gedanken.
So ist auch der folgende Text entstanden.
Er erzählt nicht von mir.
Nichts davon habe ich „im Außen“ erlebt.
Und er erzählt doch von mir, denn er zeigt, was sich in meinem Inneren aus Eindrücken geformt hat.
Weitergehen
Ich packte meinen Koffer und nahm mit …
Mit Wehmut den Bierkrug, der in Stücke zersprang, als die Wut aus deinen Fäusten drängte. Ich duckte mich, als ein bitterer Sprühregen die Wand benetzte. Der Geruch haftet noch an meinen Nasenflügeln. Später setzte ich Scherbe für Scherbe zusammen. Wir drei haben Narben davongetragen. Warum ich dem anderen Mann meine Aufmerksamkeit geschenkt habe, wolltest du wissen. Wie seine Telefonnummer auf den Zettel in meiner Handtasche gelangt war. Woher die Rose in der Weinflasche stammte. Keine Antwort war dir gut genug. Du wusstest, was du wusstest.
Nahm Namen in meinem Notizbuch mit. Von dir, von Frauen, von Männern. Von Freunden, die ich nie hatte. Verlorene Gespräche, verlogene Blicke, gesammelte Rückschläge. Ich blättere um und suche nach ihrem Sinn. Einmal habe ich dich sagen hören, dass ich nur eine Zwischenstation für dich sei, dass du mit einer wie mir nicht alt werden wolltest. Ich stand hinter der angelehnten Tür und habe mir die Augen ausgewischt. Was für eine bin ich?
Und wichtig: Schokolade mit Sahne, zart an Zunge und Gaumen. Wenn sie droht zu schmelzen, drücke ich sie an mein Herz. Die kühle Masse besänftigt meinen Magen. Ich denke daran, wie süß deine Worte schmecken konnten, wenn wir alleine waren, wie sie auf meiner Seele zergangen sind. Doch das war viel früher. Am Anfang schufen wir uns Zweisamkeit. Später war ich dir zu viel. Ich kenne die Sätze, die du über mich gesprochen hast, wenn du dich unbeobachtet glaubtest. Sie hängen wie Widerhaken in meinem Ohr. Die Alte nervt. Sie wird immer fetter. Ich schaue mich schon länger nach was Neuem um. So lange ist sie gut genug.
Mein Koffer verreist nicht alleine. Er nimmt mich mit, biegt meine Hand um seinen Griff, hält mich fest auf dem Boden. Mit ihm als Gefährten bin ich gut aufgehoben. Ich folge ihm auf unserem Weg. Weit weg im Süden spendet er mir einen Sonnenhut. Ich trage ihn und verstecke mich in seinem Schatten. Ohne Murren trägt mein Koffer im Osten ein Wörterbuch für mich mit Zeichen, die mir so unverständlich bleiben wie du. Deine Worte erscheinen mir nun klarer. Doch eine wie ich war damals zu dumm, zu erkennen, dass du meintest, was du sagtest. Hoch im Norden schüttet mein Koffer warme Daunen über mich, die Pechmarie mit Gänsehaut. Ich wälze mich in ihnen und hoffe, dass sie kleben bleiben. Ob wir noch in den Westen ziehen, ist fraglich. Die Gegend erinnert mich zu sehr an deine Cowboystiefel aus Schlangenhaut, deren Absätze sich in meinen Rücken gebohrt haben, als du auf meinen Gefühlen herumgetrampelt bist.
Packt es an, habe ich zu meinen Händen gesagt und so landete auch das Sommerkleid in meinem Koffer, über das du den roten Wein geschüttet hast. An diesem Abend hattest du gute Laune. Wir tanzten Samba, bis ich Blasen an den Füßen hatte und mich setzen musste. Als du mit einer fremden Frau den Raum verließt und erst eine halbe Stunde später wiederkamst, wagte ich zu fragen. Deine Stimmung war verdorben, mein Kleid befleckt. Ich rieche daran, damit ich mich daran erinnere, was ich nie mehr erleben möchte.
Ich bin mit schwerem Gepäck unterwegs, aber ich brauche niemanden, der mir beim Tragen hilft. Ab und zu halte ich an, öffne den Koffer und hole Farbe und Pinsel hervor. Dann überstreiche ich meine Erinnerungen. Zartrosa unseren ersten Kuss. Feuerrot deine Lügen. Dunkelviolett unsere letzte Begegnung. Doch der Anstrich blättert ab. Wieder und wieder muss ich übertünchen, was ich nicht sehen will.
Ich packe das Übel nicht bei den Wurzeln, ich weiß. Flucht wird mir nicht weiterhelfen. Die Farbeimer leeren sich mit der Zeit, während ich im Zickzack durch die Lande ziehe. Auf dem Bahnsteig gegenüber steht eine Frau mit Rucksack, die mir zaghaft zulächelt. Sie trägt meine Kleidung und meine Haare. Ich habe sie schon einmal gesehen. Vorsichtig hebe ich die Hand zum Gruß. Sie winkt zurück. Doch der Zug auf ihrem Gleis fährt Richtung Westen. Trauer umhüllt meinen Koffer und mich.
Ich packe meinen ganzen Mut in meine Schritte und steige hinab in die Unterführung. Als ich um die Ecke biege, stoße ich mit der Frau zusammen. „Im Westen gibt’s nichts Neues“, sagt sie und grinst. „In welche Richtung sollen wir fahren?“
Ich packe meinen Koffer mit der einen Hand und lege die andere um die Schultern der Frau. „Hilfst du mir, meine Mitte zu suchen?“, frage ich ängstlich und sie nickt. Gemeinsam gehen wir die Straße entlang. Die Eisenbahn ist uns zu schnell. Wir müssen die Welt durchschreiten, uns kreisförmig dem Zentrum nähern.
Ich packe meinen Koffer aus und nehme einen Rucksack mit. Wenn ich beide Hände frei habe, kann ich besser denken. Der Bierkrug fliegt ohne Wehmut in die Tonne. Die falschen Namen gehen in Flammen auf. Auf der Rückseite meiner Rückschläge wächst mein Lebensmut. Nur die zarte Schokolade wärmt mich nach wie vor. Wärmt uns, wenn wir nah beieinander neue Wege gehen.
Hast du es bemerkt?
Der Text ist eine Art Akrostichon.
Die ersten Absätze beginnen jeweils mit einem Wort aus dem Satz: Ich packte meinen Koffer und nahm mit …
Allerdings rückwärts. Es fängt mit „mit“ an.
Im zweiten Teil beginnen alle Absätze mit „Ich packe“.
Das ist eine Art von „Anapher“, allerdings habe ich dieses Stilmittel auch sehr weit ausgelegt.
Bei einer Anapher beginnen mehrere aufeinanderfolgende Sätze mit demselben Wort oder denselben Worten.
Du siehst:
Es kann gut sein, verschiedene Stilmittel und Regeln zu kennen.
Aber es ist mindestens genauso gut, sie kreativ zu brechen.
„Lerne die Regeln, damit du sie richtig brechen kannst“, soll der Dalai Lama so oder ähnlich gesagt haben.
Finde ich auch.
Wie wäre es, wenn du dir selbst eine Schreibregel oder ein Stilmittel aussuchst und kreativ brichst?
Du könntest zum Beispiel Sätze von hinten nach vorne schreiben.
Dazu du meinst was?
Oder du nimmst zwei Redewendungen und kombinierst sie.
Wer anderen eine Grube gräbt, fängt den Wurm.
Oder du machst – wie ich – ein Rückwärts-Akrostichon mit viel „künstlerischer Freiheit“.
Ich wünsche dir viel Spaß.
Viel Spaß an Worten und Sprache können übrigens auch Kinder haben.
Zum Beispiel in den Ferien.
Deshalb habe ich mit Mira Dahm drei kostenlose Wort- und Sprachspiele zusammengestellt.
Natürlich können auch Jugendliche und Erwachsene Freude daran haben.
Ich habe alle ausprobiert und bei mir hat es funktioniert (mit dem Spaß).
Schau doch einfach hier:
Und schick mir gerne, deine regelbrechenden Schreibkunstwerke.
Ich freue mich darauf.
Viele Grüße und eine gute Zeit
Beate
PS
Ich habe einen „Bauchladen“ mit meinen Online-Produkten eröffnet.
Schau doch mal rein:
https://beatefischer.tentary.com/
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