Schilderrätsel

Seit wann steht dort ein 30er-Schild?

Neulich fahre ich gemütlich mit 48 (Kilometern, nicht Jahren) durch den Ort.

Warum schleichen die Autos vor mir so?

Normalerweise bin ich doch die Langsamste.

Da sehe ich es: ein 30er-Schild.

Ist das neu?

Das war doch gestern noch nicht da. Und vorgestern.

Ich bremse sanft und zuckle weiter.

Zu Hause erzähle ich meinem Mann: „Du, neuerdings darf man in der Stadt nur noch 30 fahren.“

Er runzelt die Stirn.

Fragt: „Neuerdings? Das ist bestimmt schon seit vier Wochen so.“

Ich kratze mich am Kinn. Aha. Ist mir gar nicht aufgefallen.

Ich fahre meistens Fahrrad und schaffe auf der Ebene kaum die 30.

 

So laufen oder fahren viele von uns durch die Gegend.

Wir sehen nur, was wir sehen müssen, um uns nicht zu gefährden.

Unser Gehirn sortiert für uns aus, was es für unnötig hält.

Manchmal tut es auch zu viel des Guten.

Die selektive Wahrnehmung kennst du bestimmt auch.

Dabei geht es darum, dass deine Aufmerksamkeit im Hinblick auf Informationen und Reize ziemlich eingeschränkt ist.

Du siehst bestimmte Dinge nicht.

Oder du siehst bestimmte Dinge dauernd.

 

Jede schwangere Frau kennt das:

Sie sieht plötzlich nur noch Kinderwagen und junge Eltern.

Mir geht es oft so, wenn ich mir über ein bestimmtes Thema Gedanken gemacht habe.

Schreibe ich an einem Text, in dem es um Nachhaltigkeit geht, finde ich ständig Nachrichten, die sich damit beschäftigen. – Ohne dass ich bewusst danach gesucht habe.

Will ich mir einen neuen Rucksack kaufen, begegnen mir ständig Leute mit Rucksäcken. (Die sind natürlich sonst auch da, aber sie fallen mir nicht auf.)

 

Warum erzähle ich dir das?

Weil es auch beim Schreiben und bei der Recherche für Texte wichtig ist, seine Wahrnehmung zu lenken.

Wenn du dich bewusst auf ein Thema und seine Details fokussierst, findest du fast automatisch spannende Aspekte und Details dazu.

 

Du willst eine spannende Figur entwickeln?

Dann schau den Leuten ins Gesicht.

Hör ihnen zu.

Sammle Details.

Wie sieht die Nase deiner Nachbarin aus?

Welchen Gesichtsausdruck hat deine Friseurin, während sie dir die Haare schneidet?

In welcher Tonlage spricht der Verkäufer am Marktstand?

 

Du willst in einem Text eine sommerliche Atmosphäre schaffen?

Setz dich eine Weile vor ein Eiscafé und spüre, was um dich herum geschieht.

Gehe ins Freibad, an den Strand, in die brütende Hitze einer Innenstadt.

Wie fühlst du dich? Was riechst du? Was schmeckst, siehst und hörst du?

 

Du willst beschreiben, was im Mund passiert, wenn jemand Schokolade isst?

Dann probiere es aus.

Und schreib auf, wie es sich anfühlt.

 

Ganz komprimiert kannst du sinnliche Details in einem Sinnesgedicht verarbeiten.

Du kannst es zu jedem Thema machen.

Zu Jahreszeiten, Orten, Menschen, Pflanzen, Tieren, zu allem, was dir einfällt.

Die Struktur ist immer ähnlich.

Du fügst dein Thema ein und beschreibst den jeweiligen Sinneseindruck.

 

Ich zeige es dir anhand von „Lindenblüten“.

Lindenblüten

Lindenblüten sind Erinnerung.

Sie schmecken nach Sommer.

Sie riechen nach Linderung.

Sie fühlen sich an wie fusselige Fäden.

Sie sehen aus wie zerzauste Bubiköpfe.

Sie hören sich an wie wispernde Elfen.

Lindenblüten sind mein Anker.

 

Was ist dein Anker?

Alles Gute

Beate

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