Gegen Morgen ...
Kontrastprogramm und Perspektivwechsel.
Auch das gehört zum Schreiben.
Deshalb bekommst du heute noch einmal eine Geschichte.
Innensicht
Gegen Morgen wird es dunkel hinter den Fenstern.
Die fleißigen Zweibeiner packen ihre Lappen weg, stellen ihre Besen, ihre Staubsauger, ihre Wischgeräte in die Kammern.
Sie sammeln den sichtbaren Müll des Tages. Schrubben die dunklen Flecken von Westen und Spiegeln.
Ich weiß, man nennt sie Menschen.
Und manche von ihnen benehmen sich auch so.
Doch von außen kann ich die Unterschiede kaum erkennen.
Die Zweibeiner werden gleich dicke blaue Säcke in die Tonnen vor dem Haus werfen.
Jeden Tag finde ich darin mein Frühstück, mein Mittag- und mein Abendessen.
Halbe Pizzas, angegessene Äpfel, pelziges Brot, Becher mit Joghurt und biegsame Bio-Karotten mit dunkelgrauen Flecken.
Hin und wieder landen belegte Häppchen in den Containern. Fehlplanung beim Catering. Das passiert. Mir soll’s recht sein.
Ich wohne im Zentrum der Welt. Zehn auf sechs Meter bepflanzte und gekünstelte Erde.
Um mich: Glas.
Über mir: der Himmel.
Sehr ruhige Lage ohne Durchgangsverkehr.
Nur wenige Nachbarn.
Ein paar Insekten als Dauermieter, ein paar komische Vögel, die aus den Wolken fallen und bald darauf wieder verschwinden.
Nicht ihr Klima in meinem Innenhof.
Das Klima hinter den Fenstern wird zunehmend frostiger.
Obwohl hier draußen die Hitze steht.
Ich husche zu meinem Durchgang und gebe den Code ein.
Wohl dem, der einen fähigen Programmierer hat.
Jetzt komm mir nicht mit: „Ratten kennen sich doch nicht mit Technologie aus.“
Du hast ja keine Ahnung.
Mein Gehirn ist zwar klein, aber damit stecke ich jeden Zweibeiner in die Tasche.
Seit ich mich hierher zurückgezogen habe, studiere ich die Gesichter der Zweibeiner hinter dem Glas.
Ihre verzerrten Mienen, ihr Lächeln, ihre gehetzten Blicke, der liebevolle Ausdruck in ihren Augen.
Ich untersuche ihr Verhalten.
Ihre erhobenen Fäuste, ihre Umarmungen, ihr heimliches Getuschel, ihren vertrauensvollen Austausch.
Ich lerne, die Menschen von den Zweibeinern zu unterscheiden.
Nach dem Frühstück schicke ich ein paar Befehle an meine Getreuen.
Von Geist zu Geist auf gesicherten Wellen.
Hinter den Fenstern zerschellt eine Kaffeetasse auf dem Boden.
Zwei Frauen küssen sich in einem Besprechungsraum.
Auf einem Bildschirm: ein Mädchen, das seiner Mutter winkt.
Die Zeit der Kinder wird kommen.
Unsere auch.
Diese Geschichte ist nicht in meinem neuen Buch.
Aber eine ganze Reihe anderer Kurzgeschichten und das eine oder andere Gedicht.
Schau gerne hier: Kaleidoskop.
Und schreib mir gerne, wie dir die Geschichten gefallen.
Ich freue mich darauf.
Alles Gute
Beate